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  • AutorenbildBirgit Fuß

FUSSNOTEN

Aktualisiert: 13. Apr. 2021

Geburtstage, Todestage und so weiter: Joyce Carol Oates „Meine Zeit der Trauer“ (S. Fischer Verlag)



Geburtstag. Todestag. Der Tag, an dem mein Herz aufging. Der Tag, an dem du zum ersten Mal "Ich liebe dich" sagtest. Der Tag, an dem wir uns zum ersten Mal berührten. Der Tag, an dem du ins Krankenhaus kam. Der Tag, an dem ich wusste, dass wir nicht mehr viel Zeit haben. All diese Tage haben einen festen Platz in meinem Kalender, wie Weihnachten und Silvester. Die meisten von ihnen sind jetzt, mehr als vier Jahre nach deinem Tod, nicht mehr so schlimm wie beim ersten Mal ohne dich, aber sie werden besondere Tage bleiben. Und Weihnachten wird immer mit der schrecklichen Nachricht verbunden sein, Silvester werde ich mich immer allein in deiner Wohnung sitzend sehen, ohne Hoffnung, mit dem Handy in der Hand. Die letzten SMSen von dir erwartend, sogar noch mal lachend. Inzwischen kann ich die Trauer gut aushalten, sie gehört einfach zu meinem Leben dazu. Meistens läuft sie sanft im Hintergrund mit, manchmal beißt sie mich unerwartet mitten auf der Straße. Es ist wichtig zu wissen, dass es besser wird. Wenn mir jemand den Quatsch erzählt, dass die Zeit alle Wunden heilt, verdrehe ich nur noch innerlich die Augen. Ist ja meistens gut gemeint. Die Wunden werden nie ganz verschwinden, die Zeit legt nur einen lindernden Schorf darüber. Er wird immer tot sein, ich werde ihn immer vermissen. Doch ich kann wieder glücklich sein, ich freue mich wieder über die Gegenwart und auf die Zukunft. Und ich weiß, dass meine Freude auch seine Freude ist, für immer.


Es hat lange gedauert, bis ich mich getraut habe, das autobiografische Buch von Joyce Carol Oates in die Hand zu nehmen: „Meine Zeit der Trauer (A Widow’s Story)“, das kam mir einfach zu bekannt vor. Im ersten Jahr nach seinem Tod war ich so mit mir selbst beschäftigt, dass ich andere Verlustgeschichten kaum aushalten konnte. Wenn diese Monate (oder Jahre, je nachdem wie lange es dauert – auch da gibt es keine Allgemeingültigkeit) vorbei sind und der Blick sich weitet, dann kann ich dieses Buch sehr empfehlen. Mir fällt kein anderes Memoir ein, das so brutal ehrlich, so gnadenlos beschreibt, was Trauer anrichtet. Wie sie in einem wütet, wie sie alles auffrisst, wie sich alles auflöst und nur sehr mühsam wieder zusammensetzen lässt. Das Entscheidende dabei ist: Das Weiterleben, das neue Leben ist möglich! Und diese Erkenntnis strahlt gerade deshalb so hell, weil uns Oates vorher die Dunkelheit nicht erspart.


Sie ist seit 47 Jahre mit ihrem Ray verheiratet, als er 2008 an den Folgen einer Lungenentzündung recht plötzlich stirbt. Sie kämpft sich durch die Einsamkeit und die vielen lebensmüden Momente, sie fühlt sich entfremdet, sogar von den besten Freunden. Sie kümmert sich um die Nachlass-Arbeiten und sucht nach Perspektiven, sie will den Alltag bewältigen, sie schreibt und schreibt, um nicht verrückt zu werden. Sie erinnert sich an ihren Mann und hat Angst, dass diese Erinnerung verblassen könnte, während sie sich ständig dieselben Fragen stellt, die im Grunde nur Stellvertreter für eine einzige sind: „Warum?“ Manchmal berichtet sie von sich in der dritten Person, als wäre diese Witwe ein Versuchskaninchen, das sie aus der Distanz interessiert beobachtet: Wird es überleben oder nicht? Sie rettet sich auch mit Pragmatismus: „Die Handlungen einer Witwe stellen sich abwechselnd als rationale oder als irrationale Alternativen zum Selbstmord dar. Alles, was eine Witwe tut oder zu tun in Erwägung zieht, ist eine Alternative zum Selbstmord und insofern wünschenswert, wie naiv, töricht oder müßig es auch sein mag.“


Oates durchläuft all die komplexen Trauerprozesse und erzählt so wahrhaftig von ihnen, dass einem manchmal sehr bang wird, doch langsam schimmern ein paar kleine Lichblicke durch. Das Buch endet mit dem ersten Todestag und dem Satz „Ich lebe noch.“ Mehr kann, mehr muss niemand, der einen geliebten Menschen verloren hat, von sich selbst erwarten. Das ist schon sehr, sehr viel. Alles weitere kann dann kommen.


Einen Monat nach Rays erstem Todestag heiratete Joyce Carol Oates erneut.



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