Frank Schäfer: "Zu früh" (Kröner Edition Klöpfer)
Sie werden sich vielleicht fragen, warum ich in einem Blog über Tod und Trauer einen Roman empfehle, der von acht dramatischen Wochen auf einer Frühchenstation handelt. Erstens weil ich Überraschungen mag, zweitens weil es sich um ein sehr gutes Buch handelt - was wiederum keine Überraschung ist, denn Frank Schäfer ist einer meiner langjährigen Kollegen beim ROLLING STONE, und ich weiß natürlich, dass er schreiben kann. Doch "Zu früh" fällt raus aus seinem Werk, in dem es sonst oft (nicht nur) um harte Rockmusik und Literatur geht. In "Zu früh" geht es um alles.
Und genau das ist der Grund, warum dieses nur 126 Seiten umfassende, aber die Essenz des Lebens einfangende Buch doch hier reinpasst. Existenzielle Erfahrungen gleichen einander, und zwischen Geburt und Tod gibt es erstaunlich viele Gemeinsamkeiten. In "Zu früh" kommt sogar beides zusammen, weil der drohende Tod immer mitschwingt, nachdem das Baby schon nach 29 Wochen und zwei Tagen geboren wurde. Wir sind im Jahr 2003 in Braunschweig, die Hauptperson, um die sich alles dreht, heißt Oscar, die Eltern Heike und Frank - man muss kein Fuchs sein, um zu erkennen, dass es eine sehr persönliche Geschichte ist. Und genau darin liegt ihre Kraft.
Die Frank-typische Mischung aus Ernsthaftigkeit und einer gewissen Leichtigkeit, trotz allem, macht das Buch so beeindruckend. Er beobachtet sehr genau, er schont weder sich selbst noch andere. Wer wahrhaftig berichten möchte, muss wohl in kauf nehmen, dass er andere verletzen könnte. Dieses Buch ist allerdings so voller Empathie und Dankbarkeit, dass ich das Gefühl habe: Die Enttäuschung und die Wut, die kriegen schon die richtigen ab. In Extremsituationen zeigt sich immer, wer zu einem hält und wer es nicht aushalten kann. Und man merkt, dass Sprache nicht ausreicht, um die Zustände zu erklären, in denen man sich befindet. Aber Frank findet die richtigen Worte, und gerade wenn er mit ihnen ringt und dieses Ringen analysiert, ist das Buch besonders stark. Über seine Tagebucheinträge schreibt er: "Man sollte das Pathos dimmen, die übertriebenen Affektäußerungen loswerden. Ich lösche den letzten Satz kopfschüttelnd, um die Korrektur anschließend doch wieder rückgängig zu machen. Soll man wirklich verbergen, was man in diesem Augenblick in vollem Ernst und vielleicht sogar mit Tränen in den Augen gedacht hat?" Soll man nicht. Das Pathos ist hier wohldosiert, deshalb trifft es einen dann besonders heftig. Der Satz war "Atme, kleiner Junge, atme!"
Um es gleich vorweg zu nehmen, ich mag nämlich keine zu große Spannung oder traurige Enden: Es geht gut aus, Oscar ist inzwischen längst erwachsen. Zwischendurch, fast wie nebenbei zwischen der Dramatik von OPs, Inkubator und medizinischen Fremdwörtern, die man gar nicht kennen möchte, verhandelt Frank Themen, über die sich genaueres Nachdenken lohnt. Zum Beispiel: "Gab es einen grundsätzlichen Unterschied zu Menschen mit Kindern? Möglicherweise war es der Umstand, dass sie eine existenzielle Erfahrung nicht gemacht hatten. Nämlich von sich selbst völlig abzusehen, die eigenen Bedürfnisse komplett dranzugeben, weil das Kind für eine ganze Weile totale Aufmerksamkeit und absolute Hingabe beansprucht."
Mal abgesehen davon, dass ich durchaus Eltern (leider vor allem Väter) kenne, die es niemals geschafft haben, mal von sich selbst völlig abzusehen, schreibt Frank dann etwas ziemlich Wahres: "Ich will damit das Kindermachen keineswegs moralisch veredeln. Es hat nichts Altruistisches. Im Gegenteil: Man will nicht Leben schenken. Man will beim Sterben nicht allein sein." (Es ist auch toll, wie er zwischendurch solche Aussagen raushaut: "Offenbar halten wir den Sohn für unser wichtigstes Werk ... Und obwohl mir jene Eltern unsympathisch sind und lächerlich vorkommen, die sich ihr Kind als Verdienst anrechnen, ein bisschen steckt das in jedem Vater, jeder Mutter. Sonst gäbe es keinen Elternstolz. Mir sind die am liebsten, denen er fortwährend peinlich bleibt." Mir auch, Frank, mir auch! Es gibt gar nicht so viele davon.)
Ich denke, es gibt einen grundsätzlichen Unterschied zwischen Menschen, die nie eine existenzielle Erfahrung gemacht haben, und solchen, die das nicht haben. Das muss keine Geburt sein, es kann auch ein Tod sein. Jedenfalls weiß ich, dass ich ein anderer Mensch bin, seit ich beim Sterben meines Geliebten dabei war. Das direkte Spüren der Endlichkeit verändert einiges. Mitgefühl spielt eine viel größere Rolle für mich, Materialistisches ist mir (noch) unwichtiger geworden, und ich nehme das Leben ernster und lasse nicht mehr so viele Stunden achtlos verstreichen. Heike und Frank werden das verstehen - und vielleicht hat sogar Oscar schon eine Ahnung davon.
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