Keine Angst vor großen Worten: Alwine Paessens-Deege „Lasst uns end-lich leben“ (Santiago Verlag)
Die doppelte Bedeutung von „endlich“ hat mir schon immer gefallen. Das Wissen um die Vergänglichkeit einerseits und andererseits dieses berauschende Gefühl, wenn nach langem Warten etwas wahr sind. Zwischen dieser existenziellen Verunsicherung und der genauso existenziellen Lebensfreude spielt sich ja im Grunde alles ab.
Alwine Paessens-Deege hat in ihrem Buch „Gedichte, Lieder, Geschichten und Texte, die an die Endlichkeit des Lebens erinnern“ (so der Untertitel) versammelt – es ist ein bisschen konfus gestaltet, mit etwas zu vielen Schrifttypen und -größen, doch die Inhalte laden sowieso nicht zum konsequenten Durchlesen ein, sondern zum hier und dort Stöbern, das eine überblättern, am anderen hängenbleiben. Manche Geschichten und Sichtweisen sind mir fremd (mit frommen Besserwissern habe ich es nicht so), andere gehen mir sehr nah. Tod und Trauer sind zwar Erfahrungen, die wir alle teilen, aber wie wir damit umgehen, ist eben so individuell wie jeder Mensch.
Hier heute nur ein paar kleine Denkanstöße. Zum Beispiel diese Sätze von Ernest Hemingway (ausgerechnet!) habe ich schon immer geliebt:
„Nur wenige Menschen sind wirklich lebendig,
und die, die es sind, sterben nie.
Es zählt nicht, dass sie nicht mehr da sind.
Niemand, den man wirklich liebt, ist jemals tot.“
Oder diese von Rainer Maria Rilke:
„Ich leben mein Leben in wachsenden Ringen,
die sich über die Dinge zieh’n.
Ich werde den letzten vielleicht nicht vollbringen,
aber versuchen will ich ihn.“
Es werden auch ein paar der Fragen aus Max Frischs „Tagebüchern“ aufgezählt, die sich mit dem Tod beschäftigen – und die es wert sind, immer mal wieder überdacht zu werden:
Haben Sie Angst vor dem Tod – und seit welchem Lebensjahr?
Was tun Sie dagegen?
Haben Sie keine Angst vor dem Tod (weil Sie materialistisch denken? Weil sie nicht materialistisch denken?), aber Angst vor dem Sterben?
Was stört sie an Begräbnissen?
Haben Sie Freunde unter den Toten?
An diesen Fragen habe ich gemerkt, wie sehr sich der eigene Blickwinkel im Laufe der Jahre verändern kann – vor allem, wenn wir dann tatsächlich mal richtig mit dem Tod konfrontiert werden. Bevor mein Liebster starb, wusste ich praktisch nichts übers Sterben. Ich war 44 und hatte natürlich schon Menschen verloren. Doch meine Großeltern waren weit weg, als sie starben, und zu Hause wurde nach ihrem Tod nur noch wenig über sie geredet. Die Beerdigungen waren katholische Routine, nichts weiter, unfassbar unspirituell. In meiner Teenagerzeit hatten sich gleich mehrere Bekannte umgebracht, aber auch hier herrschte Sprachlosigkeit, und die Frage nach dem Warum überschattete andere Fragen wie: Wo geht es nach dem Tod eigentlich hin?
Mein Liebster war der erste Mensch, den ich sterben gesehen habe – und das hat für mich alles verändert. Es war nichts Theoretisches mehr, es gab auch kein abstraktes Jenseits-Konstrukt mehr, an das ich sowieso nie geglaubt hatte. Als er starb, war das kein einzelner Moment, mit dem dann plötzlich alles vorbei war. Es war ein Prozess, und im Laufe von einigen Stunden wusste ich (ohne dass ich es damals so hätte sagen können), dass dieser Mensch, dessen Hülle nun regungslos vor mir lag, niemals weg sein würde. Wo er genau sein würde, das konnte ich noch nicht recht begreifen und weiß es bis heute nicht (wie auch? Ich lebe ja noch), aber eine Verbindung würde es immer geben. Auf die letzte Frage von Max Frisch habe ich also eine eindeutige Antwort: Ja, ich habe wohl viele Freunde unter den Toten – und einen, auf den ich mich ganz besonders freue. Manchmal kann ich es kaum erwarten, ihn – auf welche Weise auch immer – wiederzusehen. Bis dahin genieße ich das Leben, so gut ich kann. Sonst schimpft er später noch.
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