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  • AutorenbildBirgit Fuß

FUSSNOTEN

Ailo Gaup: „Das Herz des Nordens“ (Veth Verlag)

Wahrscheinlich ist dies der letzte Literatur-Tipp des Jahres, weil jetzt die Adventszeit beginnt, die für mich immer mehr Abschieds- als Ankunftszeit ist, und da brauche ich ein bisschen Ruhe. Mein Weihnachten ist im fünften Jahr nach seinem Tod nicht mehr so dunkel, ich kann sogar wieder ein paar Elche und Sterne aufstellen, aber es wird immer verbunden sein mit der Erinnerung an diese SMS am ersten Feiertag, dass er ins Krankenhaus muss. An Silvester werden meine Gedanken wieder in seine damalige Wohnung schweifen, aus der ich ihm SMSen schrieb, es waren die letzten Scherze, die wir miteinander teilten. Da wusste ich schon, dass es ein kurzes Jahr wird für ihn. Am 9. Januar ist er gestorben. Auch wenn ich mich inzwischen wieder als glücklich bezeichnen würde, bleiben das die härtesten Wochen. Deshalb möchte ich heute über ein Buch schreiben, das ein neues Licht in mein Leben gebracht hat. Vielleicht wurde es mir auch von einem neuen Licht gebracht, das ist alles nicht so eindeutig. Auf jeden Fall ist es eins der schönsten Bücher, die ich je gelesen habe, vor allem wegen des Raums zwischen den Zeilen.


„Ein Sami-Schamane erzählt“ steht so simpel unter dem eigentlichen Titel „Das Herz des Nordens“, und als ich das Buch um ersten Mal in die Hand nahm, wusste ich nur, dass Samen die Leute sind, die wir früher Lappen genannt haben und die vor allem in den nördlichen Teilen Skandinaviens leben. Übersetzt heißt es „Sumpfmenschen“. Von Schamanen wusste ich auch eher wenig, und das machte gar nichts, denn Ailo öffnet einem das Tor zu anderen Welten mit so wahrhaftigen, einfachen Worten, dass ihm jede*r folgen kann. Er erklärt, was es mit Trommelreisen und Krafttieren auf sich hat, was Joiken heißt und widmet dem Lauschen besonders viel Zeit. Natürlich ist ein klarer Blick wichtig auf dem Weg zu neuen Erkenntnissen, doch dem Lauschen misst er noch mehr Bedeutung bei. In der Stille ist alles zu finden.


„Für mich ist ein Schamane jemand, der zwischen den Welten reist und dort seine Aufgabe findet“, schreibt Ailo, und von diesen Reisen zwischen den Welten handelt das Buch, unter anderem. Es fühlt sich schon heilsam an, nur davon zu lesen – wie ein erster kleiner Schritt in eine gute Richtung, und es tauchen neue, tiefere Fragen auf, während andere, unwichtigere in Rauch aufgehen. Wie können wir uns vom Alltag und unserem Ego lösen und über die Stille zur Ekstase kommen – also raus aus dem Labyrinth? „Die Lösung des Lebensrätsels befindet sich an einem anderen Ort. Das Ziel, ist, den Weg zur leuchtenden Tür zu finden. Verfügt man über den goldenen Schlüssel, kann man die Tür öffnen, und man steht an der Schwelle des Mysteriums. Wenn man durch diese Tür tritt, kommt die Seele nach Hause. Die Sprache endet. Die Ekstase übernimmt. Der Zweck der Mythologie ist letztlich, sich selbst aufzuheben.“


Mit Ekstase meint Ailo Gaup nicht (nur) die reine Leidenschaft, sondern tiefe Konzentration, hohe Abstraktion. „Die Ekstase fängt da an, wo die Welt der Worte endet.“ Es ist natürlich ein Widerspruch in sich, dass hier so viele Worte etwas vermitteln, was Sprache gar nicht sagen kann – aber wie Michael Stipe singt: „Celebrate the contradiction!“ Zwischen vielen neugierigen Fragen und einigen Antworten und noch mehr offenen Bildern und Geschichten steht auch ein Gedicht von Tarjei Vesaas, in dem das Licht durchschimmert, das über unsere vergängliche Welt hinausweist:


Willst du mir deine Hand beim Schein des Mondes geben,

Du bist das Blatt –

Unter freiem Himmel. Über offenem Abgrund.

Wie Laub

Sind Du und ich.

Schnell zitternd

Und schnell verschwunden.

Komm -

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