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AutorenbildBirgit Fuß

FUSSNOTEN

Chimamanda Ngozi Adichie: „Trauer ist das Glück, geliebt zu haben“ (S. Fischer)

Heute mal ganz einfach: Lesen Sie bitte dieses Buch. Es hat nur 76 kleine Seiten, doch es steht so viel über Liebe und Trauer darin, dass ich gar nicht anfangen möchte, es nachzuerzählen. Nehmen wir also nur diesen einen Satz, bei dem ich - wie bei so vielen Sätzen der afrikanischen Feministin, die während der Pandemie Vater und Mutter verlor - sofort nicken musste: "Wir wissen nicht, wie wir trauern werden, bis wir es tun."


Zum Beispiel die Grabpflege: Ich war früher gern auf Friedhöfen spazieren und guckte mir Gräber an, doch sie bedeuteten mir nichts. Die meiner Großeltern lagen fein säuberlich eingereiht zwischen vielen anderen, hin und wieder wurden Blumen hingebracht, es hatte nichts Persönliches. Mein Liebster konnte seinen gestorbenen Bruder gleich gar nicht besuchen, er war auf seinen eigenen Wunsch anonym beerdigt worden. Wir sprachen häufiger darüber, meine Meinung war stets: Wie wichtig können Steine, Kerzen und Blumen schon sein? Wichtig ist doch, die Liebe zu zeigen, während wir leben. Das stimmt schon, und doch sehe ich es inzwischen anders, jedenfalls für mich und ihn. Ich pflanze gern bunte Blumen in Ohlsdorf, freue mich über das wuchernde Efeu. Schade nur, dass ich hier keine Weinreben für ihn anbauen kann. Freunde stellen Schlümpfe an sein Grab, ein Snoopy von mir und einer von seinem besten Freund stehen dort auch. Ich sorge immer, wenn ich kann, für leuchtende Kerzen. Wahrscheinlich machen wir all das vor allem für uns selbst, unsere Liebsten sind ja längst woanders und kümmern sich nicht mehr um solche Lappalien. Aber: Wenn wir hier auf der Erde sonst gar nichts mehr für sie tun können, dann gibt es wenigstens diesen kleinen Quadratmeter, an dem wir zeigen können, wie groß die Liebe immer sein wird.


Zum Beispiel die Ungeduld. Ich hätte, bevor er starb, niemals gedacht, wie ungeduldig, ja ungnädig Trauer macht. Ich hatte gerade in den ersten Monaten nach seinem Tod überhaupt kein Verständnis dafür, wie viel oberflächliches Geplapper es gibt. Was für Plattitüden einem die Leute sagen, wie leichtfertig über die wahren Gefühle hinweggegangen wird. Schnell habe ich alle Smalltalk-Gelegenheiten gemieden. Ich musste mich aufs Wesentliche konzentrieren, weil mir die Kraft fehlte, mich auch noch um alles Unwichtige zu kümmern. Das hat auf lange Sicht zu der schönen Erkenntnis geführt, dass man all das Geplänkel einfach weglassen kann, ohne dass einem etwas fehlt.


Zum Beispiel die Sprache. Adichie schreibt zum Schluss: „Ich schreibe über meinen Vater in der Vergangenheitsform, und ich kann nicht glauben, dass ich über meinen Vater in der Vergangenheitsform schreibe.“ Das habe ich mir irgendwann abgewöhnt – beziehungsweise mir erlaubt, auch in der Gegenwartsform von meinem Liebsten zu reden, wenn ich es passend finde. Da wundern sich Leute manchmal, doch für mich ist er eben immer noch und für immer sehr präsent – er hilft mir, Entscheidungen zu treffen, manchmal schüttelt er den Kopf, ganz oft spricht er mir Mut zu. Und in einigen Situationen kann ich seinen Kommentar fast hören. Es ist schwierig, die richtigen Worte dafür zu finden, dass jemand gleichzeitig nicht mehr auf dieser Welt ist und ein Teil von ihm doch da sein wird, solange ich eine Verbindung zu ihm habe.


Und das sind nur drei von Dutzenden Überraschungen, die ich in der Trauer erlebt habe. In Extremsituationen steckt eben auch die Chance, sich selbst noch einmal neu kennenzulernen – obwohl man natürlich alles dafür gäbe, es nicht tun zu müssen und den Tod ungeschehen machen zu können. Mit Glück entdecken wir zwischen all dem Schmerz, den Katastrophen und dem Chaos die eine oder andere schöne Seite, eine neue Tiefe, einen anderen Blickwinkel. Oder wie Lester Burnham in „American Beauty“ sagt: „It’s a great thing when you realize you still have the ability to surprise yourself.“


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Mit besonderem Dank an meine Trauer-Freundin Gabriele, die mir nicht nur dieses Buch (und andere wertvolle Literaturtipps) geschenkt hat, sondern die mir auch sonst immer so viel gibt. Mit ihren klugen Worten und ihrem verschmitzten Lächeln gehört sie zu den schönen Aspekten, die es nach einem Verlust auch geben kann...

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