DAS Album über die Vergänglichkeit: R.E.M. „Automatic For The People” (Warner)
An den Abend erinnere ich mich gern, und gleichzeitig spüre ich immer ein Stechen im Herz. Eigentlich war es perfekt: Ich sollte für den ROLLING STONE mit der Hälfte meiner Lieblingsband, Michael Stipe und Mike Mills von R.E.M., über mein Lieblingsalbum “Automatic For The People” sprechen – vor einem kleinen Publikum in Berlin, mit Live-Stream für weitere Interessierte. Es war November 2017, die Platte wurde 25 Jahre alt. Es war keine Frage, dass ich das machen würde, natürlich würde ich das machen. Mit ihrem Manager waren die Bedingungen schnell geklärt, wir kennen und mögen uns schon lange. Fragen hatte ich für eine Stunde mehr als genug. Das einzige Problem war: Vor gerade mal zehn Monaten war mein Geliebter gestorben, ich befand mich immer noch in einem recht desolaten Zustand, und “Automatic” handelt praktisch nur von Vergänglichkeit und Tod. Wie viel Angst ich vor dem Abend hatte und davor, “performen” zu müssen vor so vielen Leuten, konnte ich kaum jemandem erzählen. Manch einer im Verlag hatte sowieso schon gefragt, wann ich denn “endlich wieder normal” werden würde. Trauer ist im Arbeitsalltag nicht vorgesehen, wir sollen funktionieren. Ich hatte noch Glück, weil ich es mir leisten konnte, eine Weile ein bisschen zurückzuschalten, aber das wird natürlich nicht gern gesehen - die meisten Chefs halten immer noch viel vom "Zusammenreißen", auch wenn Verdrängen auf lange Sicht krank macht. Dass es beispielsweise bei Facebook inzwischen 20 Tage Trauer-“Urlaub” für Angestellte gibt, hat mit Sicherheit auch damit zu tun, dass deren Geschäftsführerin Sheryl Sandberg selbst ihren Mann verloren hat und weiß, wie arbeitsunfähig man im ersten Schock ist – und oft noch sehr lange danach. Aber zurück zu R.E.M.
Zum Glück lief der Abend nach einem etwas unentspannten Start ziemlich gut, es gab sogar ein paar richtige Lacher. Mein Lieblingsmoment war, als Stipe lachend “Very sneaky, Birgit!” sagte, bloß weil ich mal ein bisschen kritisch nachgefragt hatte. Ich konnte ihm erst zwei Jahre später erzählen, dass ich den Abend nur sehr schwer durchgehalten hatte, doch zumindest konnte ich schon direkt danach das Album, das ich so viele Monate nicht angefasst hatte, wieder mit Genuss hören. Ohne Kloß im Hals natürlich nicht. Aber das war schon immer so. Es fällt mir schwer, in Worte zu fassen, wie viel mir “Automatic For The People” bedeutet – da kommt mir jeder Superlativ zu billig, jedes Adjektiv zu simpel vor. Die Musik muss ich vielleicht gar nicht mehr beschreiben, kann ja jede*r anhören und feststellen, dass hier vier Menschen auf dem absoluten Höhepunkt ihrer Kreativität sind, alle Stücke kleine Meisterwerke.
Und wie wunderbar Michael Stipe diese einzigartigen Texte singt! Da ist zum Beispiel dieser Mensch, der in “Try Not To Breathe” ohne Verbitterung feststellt, dass er ein volles Leben hat und jetzt lieber aufhören möchte zu atmen – “this decision is mine”. Und der doch auch an die denkt, die es aushalten müssen, neben dem Sterbenden zu sitzen und nichts tun zu können: “I will try not to worry you/ I have seen things that you will never see…” Was bleibt, ist die Erinnerung. Nach der Gaga-Lyrik von “The Sidewinder Sleeps Tonite” mit dem zauberhaften Lacher zwischendrin kommt die schönste Hymne auf das Mitgefühl, “Everybody Hurts”. Gerade weil das Lied so schlicht ist, hat es eine unwahrscheinliche Kraft. Es braucht keine großen Worte, es ist einfach da und sagt: Du bist nicht allein, such Trost bei deinen Freunden. In “Sweetness Follows” begräbt jemand Vater und Mutter und fragt sich, was der Verlust hier überhaupt bedeutet. “I used to wonder why did you bother/ Distanced from one, blind to the other” – wer in komplizierten Familienverhältnissen aufgewachsen ist, wird das sofort verstehen können. Und doch gibt es Trost, wenigstens im Tod, und die zaghafte Erkenntnis, dass wir immer die Gelegenheit haben, das Beste aus jedem Moment zu machen: “Live your life filled with joy and wonder.”
Die wehmütigen Kindheitserinnerungen von “Nightswimming” führen zu dem vielleicht definitiven R.E.M.-Song, falls es unter all den großen R.E.M.-Songs so was gibt. Auf jeden Fall berührt mich “Find The River” jedes Mal so sehr – die zarte Aufforderung “Don’t be shy”, der gedankliche Gang durch den Heilpflanzen- und Kräutergarten, das Hin und Her zwischen Orientierungslosigkeit und dem Gefühl, dass schon alles in den Fluss kommen wird, “we’re closer now than light years to go”. Und dann irgendwann der letzte Satz: “All of this is coming your way.” Auch wenn es einem in manchen Momenten oder auch Monaten überhaupt nicht so vorkommt: Die Zuversicht bahnt sich schon ihren Weg. Gegen die Liebe hat der Tod niemals eine Chance.
(Foto: Martin von den Driesch)
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