Tom Liwa: "Der, den mein Freund kannte" / "Das Buch Tom" (d,dmfk)
Wahrscheinlich kennt das jeder Mensch. Die Angst, ein geliebtes Buch oder einen geliebten Film Jahre später noch mal zu lesen oder zu gucken und dann festzustellen: Das war nichts. Oder vorsichtiger formuliert: Ist schlecht gealtert. Wer will sich schon die schönen Erinnerungen kaputt machen? Das Großartige an Erinnerungen ist ja, dass wir sie uns ein bisschen zurechtbiegen können, damit sie in unser Leben passen. Manches weglassen, anderes überhöhen, vieles mit einem gnädigen Schleier überziehen: Das sind bewährte Strategien, um sich selbst zu beruhigen.
Nachdem mein Liebster gestorben war, hatte ich oft große Angst, dass meine Erinnerung an ihn verblasst. Dass ich bald nicht mehr wissen werde, wie er roch, wie er sich anfühlte, wie er redete. Fast sieben Jahre später kann ich zweifelnden Trauernden versichern: Es ist alles noch da. Natürlich denke ich jetzt nicht mehr in jeder Minute an ihn, aber wenn ich an ihn denke, und ich denke immer noch jeden Tag an ihn, und nicht nur einmal, dann kann ich seine Haut spüren, seine Augen sehen, seine Hände. Ich erinnere mich an manche Momente, als wären sie gestern gewesen. Wer das traurig findet, weiß vielleicht nicht, was Liebe ist. Liebe ist eben unendlich. Und sie ist nicht an die Bedingung geknüpft, dass das Gegenüber physisch da ist. Sie kann ins Jenseits strahlen. Und zurück.
Nun sind Kulturgüter keine Partner, da fällt das Abstrahieren leichter. Vor einer Weile entdeckte ich die Serie "Die Schöne und das Biest" wieder. In den 80er-Jahren habe ich den Löwenmann Vincent geliebt und wollte so gern seine Catherine sein - eine fast hoffnungslose, aber doch so bedingungslose Liebe, gegen alle Widerstände. Beim Wiedersehen fand ich zwar immer noch Ron Perlman wunderbar, der diesen Vincent mit viel Würde spielt und so berührend Gedichte vorlesen kann. Die Poesie war in einigen Szenen weiterhin da, auch die Welt der Tunnel unter New York City hatte noch einen zauberhaften Charme, aber ach - wie klischeehaft die Gangster waren, wie hilflos die Frauen, wie billig die Kulissen! Irgendwie war im Laufe der Jahrzehnte das Magische verloren gegangen. (Außer in der Halloween-Folge - Nerds wissen, was ich meine.) Deshalb habe ich nie wieder "Der Fänger im Roggen" gelesen, nachdem ich über 25 war. Was, wenn ich es plötzlich albern finde? Auch überlege ich seit Wochen, ob ich noch einmal "Hair" ansehen soll, das Hippie-Musical hat meine Jugend ähnlich bereichert wie Holden Caulfield und Dean Moriarty - und Jim Morrison, den ich weiterhin bei allen Bedenkenträgern verteidige. Teenager-Leidenschaften sind das eine, wie ist es mit Werken, die einem später sehr viel bedeuten?
Ziemlich genau drei Jahre ist es her, dass Tom Liwas Album "Der, den mein Freund kannte" erschien und zeitgleich "Das Buch Tom". Ich wusste schon länger, dass ich gern etwas darüber schreiben möchte, aber ich habe mich kaum getraut, es aus dem Regal zu nehmen. Dabei ist es sehr handlich, es sieht schön aus und wiegt nur 171 Gramm. Für mich steckt so viel drin, dass ich es nur vorsichtig anfasse, obwohl ich es ja sowieso sehr gut kenne. (Mit der CD ist es etwas anders - die möchte ich allen Menschen ans Herz legen, die sich für die Themen Liebe und Freundschaft, Sterben und Tod, Trauer und Liebe, immer wieder Liebe interessieren - und ich nehme mal an, wer es bis hierhin geschafft hat, gehört dazu. Es ist ein Album, das sich unaufdringlich ins Herz bohrt, es tut weh, und es tut gut, und es lässt einen im besten Sinn demütig ins Universum und darüber hinaus blicken.)
"Das Buch Tom" also. Dafür gilt im Grunde dasselbe wie für das Album, es geht ebenfalls um Liebe und Tod und alles dazwischen. Es besteht aus 384 poetischen Hexagrammen - Sechszeiler, die zwischen den Welten wandern und uns auf diese Reise mitnehmen. Wir treffen ein Äffchen und ein Mädchen mit Hut, sehen ein türkisfarbenes Ruderboot und einen Kirschbaum, viel Liebe und viele Schmerzen, Knoten und wie sie sich lösen, es gibt etliche Wege und nicht wenig Feuer und immer wieder einen Fluss, und der Mond ist natürlich auch da, so wie der Himmel mit all seinen Sternen. Das Buch ist voller Bilder, die oft erst mal überraschen und einem dann doch vertraut vorkommen, und es liegt eine Wahrheit hinter ihnen, die jede:r für sich selbst entdecken muss. Toms Kosmologie ist gleichzeitig begreiflich und unfassbar. Wie fast alles Schöne im Leben. Es ist unmöglich, einzelne Passagen herauszugreifen, aber ich mache es trotzdem. Zwei, die hier besonders gut passen:
"warte nicht auf wirkung.
warte nicht auf erfolg.
warte nicht auf die schwelle,
das fenster, das portal.
sei dir selbst die antwort
und spring"
"wenn der abschied kommt
dann steige
leg alle rätsel ab
und übe
sitze, stehe, liege
dann fliege."
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Das Album "Der, den mein Freund kannte" gibt es hier: https://tomliwa.bandcamp.com/album/der-den-mein-freund-kannte
"Das Buch Tom" ist schon ausverkauft, aber es gibt eine wunderbare Hörbuchversion davon: https://tomliwa.bandcamp.com/album/das-buch-tom