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AutorenbildBirgit Fuß

FUSSNOTEN

Brigitte Haertel: "Die Stunde des Nachtwinds - Protokoll einer Trauer" (Patmos)

 


Als ich mein Buch "Sterben darfst du aber nicht" geschrieben habe, dachte ich häufiger: Oje, das wird vielleicht eine Zumutung für meine Freund:innen! Weil die Trauer mit all ihren verheerenden Auswirkungen für Menschen, die einem nahe stehen, natürlich immer viel schwerer zu ertragen ist als für andere Leser, die das alles aus einer schützenden Distanz lesen. Ich habe mich dann mit dem Gedanken getröstet, dass der Tod meines Liebsten ja fast sieben Jahre her ist, dass insgesamt auch viel Trost in dem Buch steckt und sogar Zuversicht. Wird also schon auszuhalten sein! (Wie sich herausstellte, haben die meisten es sehr gut aufgenommen, manche waren nach dem Lesen sogar ein bisschen neidisch, weil ich das Glück einer so großen Liebe hatte. Und praktisch alle fanden, es sei ohnehin mehr ein Buch über die Leidenschaft als über die Trauer. Die Liebe hatte also wieder mal über den Tod gesiegt!)

 

Bei Brigitte Haertel bin ich mir nicht so sicher, ob sie den letzten Satz unterschreiben würde, und deshalb hat mich "Die Stunde des Nachtwinds" so berührt. Es gibt auch in ihrem "Protokoll einer Trauer" sehr, sehr viel Liebe, wunderbar zärtliche Momente, einprägsam beschriebene Erinnerungen. Das Buch wechseln zwischen den Zeitebenen, so dass einem beim Leser ihr Günter sehr lebendig erscheint, bis dann die nächste Passage kommt, in der es rasend schnell vom Krankenhaus zum Hospiz zum Friedhof geht. Tatsächlich waren es Wochen, aber die schrumpfen ja auf ein Nichts zusammen, wenn einem der Mensch aus den Fingern gleitet, den man mehr liebt als alles andere auf dieser Welt. Es schwingt eine Hoffnungslosigkeit mit auf den Seiten, die vom Danach handeln, die mich hart getroffen hat. "Ich frage mich, wie all jene Milliarden Sterblichen, die einen geliebten Menschen dem Tod überlassen mussten, wie sie diesen Verlust ertragen haben, wie sie es fertiggebracht haben, nicht verrückt zu werden", schreibt Brigitte - und das kann ich so gut verstehen. So oft dachte ich auch, ich werde verrückt, so viel Trauer kann doch nicht normal sein. Ein Satz meiner Trauerbegleiterin beruhigte mich immer wieder: "Die Trauer ist der Liebe angemessen." Oder in den Worten von Bono, der mich damals damit sehr getröstet hat: "Die Trauer ist der Maßstab der Liebe, und beides ist unendlich."

 

Nur acht Jahre hatte Brigitte mit ihrem Günter, sie lernte ihn kennen, als sie 60 war und er 73. Vielleicht ist die Liebe noch mal anders, wenn man im letzten Lebensdrittel angekommen ist - das kann ich wahrscheinlich noch nicht richtig beurteilen. Aber ich möchte so dringend, so vehement widersprechen, wenn der Tod bei Brigitte nur dunkel ist, ein finsterer Schlund, der den Menschen verschluckt und nicht übrig lässt für die Gebliebenen. Weil ich so überzeugt davon bin, dass es nicht nur diese Welt hier gibt, sondern mehr. Was genau, das weiß ich auch nicht, dafür fehlt mir die Erfahrung, ich lebe ja noch. Aber dass da etwas ist, das über das hier Begreifliche, Greifbare hinausgeht: Dessen bin ich mir sicher.

 

Deshalb tut es mir so weh, wenn Brigitte schreibt: "Andere Freunde sagen: Er wird immer bei dir sein. Daran klammere ich mich eine Weile, bis mir einfällt, dass er ja nicht mehr ist; wie kann er dann irgendwo sein? Und dann höre ich noch den Hinweis: Du solltest dankbar sein für die Zeit, die ihr hattet. Ich schaffe das nicht." Irgendwann ändert sich das vielleicht, hoffentlich. Denn diese Dankbarkeit war es, die mich durch die schlimmsten Nächte gebracht hat - das Licht, das nie erlöscht. Die Freude, dass ich ihn überhaupt lieben durfte, wenn auch viel zu kurz. Nur: Wie stellt man diese Dankbarkeit her? Kann man sie irgendwie rauskramen, wenn sie verschüttet ist unter Verzweiflung Bitterkeit oder Wut? Als Trauerbegleiterin versuche ich das bei den Menschen, die zu mir kommen. Der Verlust bleibt trotzdem derselbe, er bleibt schlimm, ein Leben lang - und doch wird er besser aushaltbar, wenn wir uns auf das Geschenk konzentrieren, das wir bekommen haben, und nicht nur darauf, dass es uns dann wieder weggerissen wurde. Das ist natürlich leicht gesagt, aber manchmal so schwer umzusetzen. Anscheinend ist Gott da auch keine Hilfe: "Auf Tröstungen durch die Religion habe ich keine Sekunde gehofft und sie auch nicht erfahren." Und ich dachte immer, einigermaßen gläubige Menschen haben es leichter. Auch die üblichen Rituale (Fotos aufstellen, Grablichter und so weiter) sind Brigitte keine Hilfe, "der ganze sinnlose Kram. Ein zwangsgesteuerter Versuch, Spuren seiner Existenz zu bewahren, ja sogar neue zu erschaffen. Nichts bringt ihn zurück."

 

Faszinierend fand ich außerdem, dass Brigitte wie ich erschüttert war von Joyce Carol Oates' Memoir "Meine Zeit der Trauer", "von der Wucht ihrer selbstzerstörerischen Gedanken", dann aber wütend wurde, als sie las, dass Oates kurz nach dem ersten Todestag ihres Mannes wieder geheiratet hat: "Eine Verräterin, wie sie im Buche steht." Sie wirft das Werk in die Ecke. Ich habe das damals auch recherchiert, war erst ähnlich irritiert - aber dachte schließlich: Ach, eigentlich schön, es gibt vielleicht auch für mich die Möglichkeit, dass ich noch einmal lieben darf. Mein gestorbener Liebster wird es mir sicher gönnen, es nimmt ihm ja nichts weg. Unsere Liebe wird immer bleiben.

 

Ein Resümee gibt es in Brigittes Buch nicht, es endet offen. Vieles ist noch ungeklärt, einiges lässt sich vielleicht nie klären - so ist das Leben. "Im ersten Jahr quälte mich ein Gemisch unterschiedlicher Anwandlungen: Verlustschmerz, Taubheit, Sehnsucht, Verzweiflung, manchmal im Wechsel. Übrig geblieben ist reine Trauer, die mich jederzeit überfallen, zum Weinen bringen kann, sobald eine winzige Erinnerung vor mir aufersteht." Diese Tränen werden wahrscheinlich nie aufhören, mir laufen sie auch nach sieben Jahren immer noch manchmal ganz unerwartet aus den Augen. Ich sage dann: Es sind Trauertränen und immer noch Sehnsuchtstränen, aber mehr als alles andere werden es immer Freudentränen sein.

 

Ich wünsche mir so sehr, dass ich in vier, fünf, meinetwegen sieben Jahren das nächste Buch von Brigitte Haertel lesen darf, in dem sie mit ihrer eindringlichen Sprache erzählt, wie sie weiter ins Leben zurückgefunden hat. Ich würde ihr auch eine weitere so große Liebe gönnen, aber wir wissen beide, dass Wunder manchmal etwas länger dauern.

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