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AutorenbildBirgit Fuß

FUSSNOTEN

Berni Mayer: "Anleitung zum Traurigsein" (Dumont)



 

Mit einfachen Lösungen kann Berni Mayer nicht dienen. Es gibt sie nicht - das begreifen alle, die tiefe Trauer erlebt haben. Er beschreibt den Grund, warum viele trotzdem danach suchen, sehr gut: "In der Verkürzung einer so komplexen Angelegenheit wie Trauer auf Phasen und Stichworte zeigt sich verständlicherweise das menschliche Bedürfnis nach Ikea-Anleitungen. Der Wunsch, einfach irgendwo anfangen zu können mit dieser komplexen Aufgabe. Und irgendwo auch wieder aufzuhören." Aber Trauer endet nur selten, also sollten wir lernen, mit ihr zu leben.

 

Der Titel "Anleitung zum Traurigsein" ist wohl eine Anspielung auf Paul Watzlawicks Bestseller "Anleitung zum Unglücklichsein", führt allerdings etwas in die Irre. Denn Berni Mayer weiß, dass Trauer was ganz Anderes ist als Traurigsein. Seine Tochter starb mit vier Jahren an einem Gehirntumor - ihm ist also das passiert, was sich alle Menschen gemeinhin als das Schlimmste vorstellen, und er beschönigt die Katastrophe nicht, sondern nimmt sie genau auseinander, während er versucht, sein Leben wieder zusammenzusetzen - manchmal hat man das Gefühl, ihm zuzusehen, wie er sich selbst zusieht bei der Bewältigung der Extremsituation.

 

Das Beste an diesem Buch ist neben seiner Ehrlichkeit, dass es mit Kapiteln wie "Baustellen: Psychotherapeutische Hilfe", "Intervalle: Ernährung und Abstinenz" oder "Eichhörnchentage: Erinnerungskultur" zwar wie ein Ratgeber wirkt, aber weitgehend auf Belehrungen verzichtet. Mayer zeigt einfach die Nöte und Notwendigkeiten auf, die sich ergeben, wenn ein geliebter Mensch stirbt. Womit die Zugehörigen kämpfen, wie sich zusätzliche Desaster vielleicht vermeiden lassen, welche Strategien ein bisschen helfen könnten. Dabei sind es oft die einfachen Sätze, die ins Herz treffen: "Es hat eine Weile gedauert, bis ich es verstanden habe: Es ist in Ordnung, untröstlich zu sein." Der Moment, in dem man erkennt, dass es keinen Trost gibt, ist erleichternd und schrecklich zugleich. Der geliebte Mensch wird immer fehlen, dieses Gefühl wird bleiben. Den Verlust kann nichts und niemand weniger schlimm machen, und doch hilft es schon, wenn andere ihn mittragen, ertragen. Wenn sie uns beistehen, während wir uns bemühen, die Verbindung zu unseren Gestorbenen zu verwandeln - von der körperlichen in eine rein seelische Ebene.

 

"Entwirren Sie ihre Trauer": Dieser Vorschlag hat mir gefallen, weil er deutlich macht, dass Trauer nicht nur ein riesiger, allumfassender Brocken ist, der zunächst unüberwindbar wirkt. Bei genauerem Hinsehen lassen sich kleine Splitter abspalten, einige Teile auseinander schlagen - und dann bearbeiten, bis sie zumindest kleiner werden. So wird aus dem Monstrum langsam ein Häufchen Elend, und darunter finden sich mit Glück auch noch erfreuliche Überraschungen wie große Batzen Dankbarkeit, und dann lässt sich sogar wieder Zuversicht aus dem Schlamm kratzen. Ein zäher Prozess, so mühsam wie nötig. MühSELIG.

 

Die Trauer um ein Kind ist natürlich anders als die um einen Partner, und dennoch habe ich in Berni Mayers Buch so vieles wiedererkannt, oft heftig genickt, manchmal den Kopf geschüttelt - vor allem über mich selbst, weil ich einiges bis heute kaum fassen kann. Mehr als sieben Jahre ist mein Liebster jetzt tot, doch manche Situationen sehe ich noch vor mir, als wären sie eben erst gewesen. Zum Beispiel, wenn ich abends das Krankenhaus verlassen musste, weil er in einem Zweibettzimmer lag - nur in den letzten 32 Stunden vor seinem Tod durfte ich bleiben, da waren wir endlich allein. Als ich damals frühmorgens an sein Bett trat, wusste ich, dass er bald sterben würde - und als er mich am Nachmittag des nächsten Tages zum letzten Mal ansah, fühlte ich zum ersten Mal in meinem Leben etwas wie Ewigkeit, auch wenn ich es in dem Moment nicht so benennen hätte können. Ich bin froh und dankbar, dass wir diese 32 Stunden für uns hatten, ich hätte keine Sekunde davon verpassen wollen, nicht mal die furchtbaren Augenblicke. In den Tagen davor, als mir noch nicht ganz so klar war, dass es jetzt schon zu Ende geht, gab es allerdings durchaus Situationen, in denen ich erleichtert war, als ich das Krankenhaus verlassen konnte. Kurz durchatmen, frische Luft. Meistens sehnte ich mich schon an der Bushaltestelle zurück nach ihm, und trotzdem: Manchmal war ich einfach nur erschöpft, und die Angst war allein leichter zu ertragen als vor ihm, wo ich sie nicht zeigen wollte. Ich schäme mich dafür, dass es diese Augenblicke gab - dass ich es manchmal okay fand, kurz von ihm getrennt zu sein.

 

Für mich war es beruhigend, zu lesen, dass Berni Mayer, der eine viel längere, noch viel krassere Zeit zwischen Diagnose und Tod mitgemacht hat, das auch kennt. Es hilft, sich bewusst zu machen, dass offensichtlich alle Trauernden es bereuen, dass sie nicht jede Minute mit den Sterbenden ausgekostet haben - egal wie viele Minuten, Stunden, Tage, Monate, Jahre es waren. Egal, wie viel Kraft sie tatsächlich aufgebracht haben. Es war einfach nie genug Zeit. Wir haben niemals das Gefühl, genügend getan zu haben. Es reicht alles nicht, nie, niemals. Wir ärgern uns stellvertretend über kleine verpasste Chancen, weil wir das Entscheidende nicht geschafft haben: den Tod zu verhindern.

 

"In Wellen" sollte Berni Mayers "Anleitung zum Traurigsein" ursprünglich heißen - weil Trauer so unberechenbar kommt und geht wie das Meer. Und wenn einen gerade mal wieder die Flut überrollt, ist es gut, solche Bücher zur Hand zu haben.

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