Mit den Toten feiern: „Coco“ (Disney)
Ein Disney-Trickfilm – was wird einem der schon vom Leben und Sterben erzählen können? Ganz schön viel, wie sich herausstellt. Es ist schon ein kleines Wunder, dass es “Coco” gibt, denn wie oft werden Kinder heutzutage überhaupt noch mit dem Thema Tod konfrontiert? Ich kenne Familien, die ihre Kleinen nicht mit zu Beerdigungen nehmen, um ihnen “das” nicht zuzumuten. Meine Mutter erzählte mir, als ich längst erwachsen war, dass sie jeden Tag an ihre Mutter denkt, aber nachdem die gestorben war, sprachen wir erst mal überhaupt nicht mehr von ihr – als wäre der Verlust dann nicht so schlimm. Als wäre sie nie da gewesen.
Der Film “Coco” hingegen feiert die Toten. Der kleine Miguel führt uns durch seine Familiengeschichte, in der es viele Verluste gibt: Der Ururopa haute mit seiner Gitarre ab, die Familie lernte, ohne ihn zu leben. Uroma Coco und all ihre Nachkommen hassen Musik, nur Miguel singt und klampft leidenschaftlich gern. Die etwas platte Geschichte um seinen Vorfahren, den Superstar/Aufschneider Ernesto de la Cruz, ist eigentlich egal, es geht um etwas Anderes. Um Miguels Kampf für seinen eigenen Weg natürlich, aber auch um die Art, wie wir mit Leben und Tod umgehen.
Die Südamerikaner haben den Día de los Muertos, den Tag der Toten. Um den habe ich sie immer beneidet: ein Freudenfest für alle Geliebten, auf beiden Seiten des Himmels – ganz selbstverständlich gehören die Gestorbenen dazu, sie sind ein normaler Teil des Lebens. Die Bilder aller lieben Menschen werden auf einen Altar gestellt, es wird mächtig viel Essen aufgetischt – und dann können die Toten kommen und mitfeiern. Die Schleusen sind weit offen, die Welten durchlässig. Es sind natürlich kindliche Bilder, mit denen “Coco” all das beschreibt: Da führt eine leuchtende Brücke ins Jenseits, die Toten werden wie Zugpassagiere abgefertigt. Doch diese bunten Szenen sind so liebevoll, so lebendig, dass einen bald sogar all die Totenköpfe und morschen Knochen nicht mehr schrecken.
Aus Versehen wechselt Miguel ins Reich der Toten und erfährt dort interessante Details über seine Familie – vor allem aber wird ihm bewusst, wie wichtig es ist, die Gestorbenen nicht zu vergessen. Wer kein Foto von sich bei seiner Familie stehen hat, kommt nicht mehr rüber ins Lebendreich am Tag der Toten – Zutrittsverweigerung, weil man ja wohl was falsch gemacht hat, wenn niemand das Andenken hochhalten will. Und wenn sich irgendwann gar niemand mehr an einen erinnert, dann verschwindet man ganz, auch aus dem recht gemütlich wirkenden Reich der Toten. Dann ist es wirklich vorbei. Wenn keine Liebe mehr da ist, ist alles weg.
Mich hat diese Erkenntnis an eine andere Geschichte der Popkultur erinnert. Nach dem Tod von Doors-Sänger Jim Morrison erzählte sein Keyboarder Ray Manzarek jahrzehntelang, dass die alten Ägypter geglaubt hätten, solange man den Namen eines Menschen ausspricht, lebt er weiter. Und dann sagte er immer: “James Douglas Morrison”. Nachdem Manzarek gestorben war, nahm Schlagzeuger John Densmore den Faden auf und sagte: “Raymond Daniel Manzarek”. Mir gefällt diese Art der Wertschätzung. Viele Leute finden ja, wir sollten möglichst schnell Abschied nehmen von den Gestorbenen – als stünden sie uns jetzt im Weg. Wie oft habe ich den Satz “Das Leben geht weiter” gehört, stets mit dem latenten Vorwurf: Du trauerst schon zu lange, Du lebst in der Vergangenheit. Da liegt, scheint mir, ein Missverständnis vor: Die Erinnerung kann einfach in die Gegenwart und die Zukunft mitgenommen werden, sie behindert gar nichts. Für mich ist es jedenfalls kein Problem, jeden Tag, ja eigentlich immer noch fast jede Stunde an meinen Geliebten zu denken und mich gleichzeitig neu zu verlieben. Die vergangenen Freuden zu feiern und weitere zuzulassen. Mein Herz ist groß genug.