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  • AutorenbildBirgit Fuß

FUSSNOTEN

Zwischen mir und der Welt eine Wand: C.S. Lewis „Über die Trauer“ (insel)

Es ist wieder Mai – die Zeit des Aufblühens, der „Wonnemonat“. Für mich sind es Wochen mit gemischten Gefühlen, denn mein Geliebter empfand den Frühling auch als Endling – er hatte in dieser Zeit einen schlimmen Verlust erlebt, und vielleicht war genau dieses Gefühl der Vergänglichkeit für ihn auch ein Impuls, mir nach vielen Wochen des Wartens und Zögerns endlich, endlich, endlich zu begegnen: Fünf Jahre ist es her, dass wir uns verliebt gegenüberstanden und plötzlich alles klar war. Mehr als vier Jahre ist es her, dass er gestorben ist. Wie relativ Zeit ist – man muss nicht Thomas Manns „Zauberberg“ gelesen haben, um das zu begreifen (es hilft aber ein bisschen). Jedenfalls sind dies immer besondere Tage für mich, und auf der Suche nach Literatur, die mir vielleicht was Neues erzählt, stieß ich auf C.S. Lewis. Ob sein „Über die Trauer“ ein guter „Begleiter für schwere Stunden“ ist, wie der Untertitel behauptet, weiß ich nicht. Mir war etwas zu viel Gott und etwas zu wenig Welt darin, zumindest in der größten Trauer hätte ich wohl wenig damit anfangen können. Jetzt fand ich einige Passagen sehr interessant, zum Beispiel gleich den Anfang: „Niemand hat mir gesagt, dass das Gefühl der Trauer so sehr dem Gefühl der Angst gleicht. Ich fürchte mich nicht, aber die Empfindung gleicht der Furcht. Das gleiche Flattern im Magen, die gleiche Unrast. Ich muss die ganze Zeit schlucken. Zu anderen Zeiten habe ich das Gefühl leichter Benommenheit. Zwischen mir und der Welt steht eine unsichtbare Wand.“


Diese Fremdheit ist eine der schlimmste Facetten der Trauer: Alle anderen kommen einem komisch vor, weil sie einfach so weiterleben. Und gleichzeitig habe ich genau gespürt, wie komisch ich vielen vorkomme: mit meinem traurigen Gesicht, mit der Unfähigkeit, den Alltag zu bewältigen, mit dieser tonnenschweren Last, die sich nicht abschütteln ließ. Es war, als wäre ich eingefüllt von einer zähflüssigen, schwarzen Masse, die nur die durchdringen konnten, die selbst keine Angst hatten. Das waren nicht viele, denn wer hat schon keine Angst vor dem Tod? Allerdings erinnere ich mich gut daran, dass ich selbst damals, in der allerschrecklichsten Zeit, noch dachte: Die Trauer ist furchtbar, aber nicht das Schlimmste. Die Vorstellung, ihm wäre vor unserem ersten Treffen etwas passiert, war so vernichtend, dass ich wusste: Ich habe großes, großes Glück gehabt. Ich habe Liebe erlebt, das kann mir keiner nehmen. Ich hätte sie nur so gern zurückgehabt. In diesen scheinbar endlosen Spiralen – Trauer, Dankbarkeit, Sehnsucht, Verzweiflung – bewegte sich mein gesamtes Leben, und als ich begriff, dass es zumindest Spiralen sind und keine bloßen Kreise, war das schon eine Erleichterung.


Und dann löste sich auch noch der Zeitbegriff auf. Niemals vorher habe ich so sehr gespürt, wie wenig Chronologie tatsächlich bedeutet. Seit ich das weiß, ist alles ein bisschen verwirrender, aber die Wirklichkeit auch viel größer. Diese eindeutigen Abgrenzungen zwischen gestern, heute und morgen gibt es nicht mehr – und damit bekommt das Jetzt noch viel mehr Gewicht. Wenn alles gleichzeitig stattfindet, ist alles möglich. Eine Zeitlang habe ich versucht, von meinem gestorbenen Geliebten gar nicht mehr in der Vergangenheit zu reden, sondern so, als wäre er noch da, weil er für mich ja noch da ist. Das irritiert die Leute aber doch zu sehr. Manchmal sage ich: „Darüber freut er sich bestimmt“, das geht. „Würde er sich freuen“ mag ich schon deshalb nicht, weil er immer gesagt hat, „Konjunktiv ist für Verlierer“. Hätte, könnte, würde: Das sind nicht unsere Worte. Wir leben jetzt. „Wenn die Toten nicht in der Zeit oder doch nicht in unserer Art von Zeit existieren, gibt es dann, wenn wir von ihnen reden, einen klaren Unterschied zwischen ,war‘, ,ist‘ und ,wird sein‘?“, fragt C.S. Lewis – und die Antwort ist natürlich: nein.


Was trotzdem nicht heißt, dass jetzt alles einfach wird. Der Körper des Geliebten fehlt ja weiterhin, wir müssen ohne ihn leben, und anfangs empfinden die meisten bei jedem kleinen neuen Glück statt Erleichterung plötzlich: Scham. Darf ich ohne ihn Freude empfinden, betrüge ich ihn damit nicht? Wenn ich nicht mehr so sehr trauere, heißt das, ich liebe ihn jetzt weniger? C.S. Lewis beschreibt „das Gefühl, man habe irgendwie die Pflicht, sein Unglück zu hätscheln, zu schützen und zu verlängern“ – weil wir die Trauer mit der Liebe verwechseln. Wir denken, nur wenn wir immer weiter leiden, lieben wir wirklich. Dabei verlagert sich die Liebe irgendwann ins Innere, wir brauchen dann die Trauer nicht mehr, jedenfalls nicht ständig. Wir werden unsere Geliebten immer vermissen, aber wir können uns wieder freuen, genießen, glücklich sein. Und ich weiß: Er freut sich mit.

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